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Channel: Piraten – Resilienz
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Betrachtungen über das #Gretchengate

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Piratenparteipräsident Thomas Bruderer wurde diese Woche in 20 Minuten und 20 Minuten online mit den aus dem Piratenparteiforum entnommenen Worten zitiert: «Ja, ich sehe Religion als eine Geisteskrankheit an.» Neben 316 Leserkommentaren beim Artikel entbrannten auch auf Twitter interessante Diskussionen, in denen ich Thomas’ Wortwahl verteidigte. Dafür wurde mir (auch) viel Unverständnis entgegengebracht.

Ich bin für einen bewussten, reflektierten Umgang mit Sprache. Ich bin keiner vor denen, die über angebliche «Political Correctness» lästern. Daher hier eine etwas ausführlichere Betrachtung:

Natürlich ist die Kritik am Wort «geisteskrank» nicht ohne Berechtigung. Die Bezeichnung ist in mehrerer Hinsicht problematisch:

  1. Sie ist unwissenschaftlich. Der Begriff gehört auf die Müllhalde der Geschichte, so wie wir auch Etikettierungen wie «Wahnsinn», «Irrsinn» und «Tobsucht» (in ihrer ursprünglichen Bedeutung als «Krankheit») entsorgt haben. «Geisteskrank» ist kein objektiver Befund.
  2. Sie ist ein Verulken von Menschen, die an einer psychischen Störung leiden. Diese kämpfen um eine gesellschaftliche (und versicherungstechnische) Akzeptanz ihrer Krankheit.
  3. Sie ist eine Herabsetzung des Gesprächspartners. Wer den Gesprächspartner als «geisteskrank» bezeichnet, spricht nicht auf Augenhöhe mit ihm.

Zu jedem der Punkte sollte man aber auch ein Aber ergänzen:

  1. Die gesamte religiöse Sprache ist ebenfalls unwissenschaftlich, von «Seele» bis «Schöpfung».
  2. Es ist nicht allzu weit hergeholt, dass viele psychische Störungen ihre Ursache in unserem religiös geprägten Denken haben. In den moralischen Schuldgefühlen, in der protestantischen Arbeitsmoral, im Ausgeschlossen-Sein, weil man nicht der religiös geprägten Norm entspricht.
  3. Die Religiösen sitzen auf einem hohen Ross. Areligiöse werden gezwungen, Steuern an Kirchen zu zahlen. Die Bundesverfassung beginnt mit Gottesbezug und wertet die Nichtreligiösen so zu Bürgern zweiter Klasse ab. Ebenso die Nationalhymne. Das neue Lehrmittel «Religion und Kultur» verschweigt nicht-religiöse Weltanschauungen. Homo-Paaren wird die Adoption verwehrt. Und: Die wenigsten Religiösen reflektieren ihr eigenes Vokabular. Sie sprechen von «Heiden» und von «Abergläubigen», wenn sie von Andersdenkenden reden. Daher scheint ein Gespräch auf Augenhöhe sowieso kaum möglich. Das Beleidigtsein der Religiösen ist mitunter auch ein Trick, um Kritik abzuwehren.

Der verwendete Ausdruck «geisteskrank» hält den Gläubigen also einerseits einen Spiegel vor. Manchmal ist anstössig zu sein das geeignetste Mittel, um einen Denkprozess anzustossen. Vielleicht merken jene, die sich von der Aussage beleidigt fühlen, dass umgekehrt einiges im Argen liegt.

Andererseits ist es ein Kampf um die Norm. Es ist ein emanzipatorischer Akt, wenn eine Minderheit der Gesellschaft (wie es die Nicht-Religiösen noch sind) selbstbewusst hinsteht und sagt, wir sind hier nicht das Abnormale, das Abnormale seid ihr. Wenn man sich bewusst ist, dass «geisteskrank» kein objektiver Befund, sondern nur eine subjektive Ansicht sein kann, dann ist die Aussage «Ich sehe Religion als eine Geisteskrankheit an» zu verstehen als eine Verkürzung und Zuspitzung der Aussage «Religiosität ist eine mich störende Abweichung von der von mir gesetzten Norm». Die Aussage richtete sich auch nicht an Religiöse direkt, sondern war eine auf sich selber bezogene Feststellung. Niemand braucht sich von einer solchen Aussage beleidigt zu fühlen.

Ich finde, eine solche Einordnung ist sehr verständlich und zu tolerieren und respektieren, aber natürlich sind auch andere Meinungen hierzu zu respektieren. Wenn der Respekt vor den Menschen mit anderen Meinungen vorhanden ist, verträgt es auch einmal eine zugespitzte Ausdrucksweise. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht eine aufgeheizte Stimmung schaffen, in der der Respekt vor den einzelnen Menschen verloren geht. Auf die Dosis kommt es an.


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